Hartmut Kaelble, Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950,Campus Verlag, 2019, 168 S.
Die Geschichte der europäischen Integration wird oft als ein reines Elitenprojekt angesehen. Dieses Bild entspricht am ehesten der Situation der 1950er und 1960er Jahre. Aber den Vorstellungen und den Einflussnahmen der Bürger in den vergangenen vierzig Jahren wird man damit aus drei Gründen nicht gerecht. Indifferent waren die Bürger je länger desto weniger. Vielmehr wechselten sich Perioden des Misstrauens der Bürger gegenüber der Europäischen Union mit Perioden des Zutrauens ab. In eine solche Periode des Zutrauens scheinen wir wieder einzutreten. Die Bürger hatten zudem andere, eigenständige Vorstellung von europäische Integration als die politischen Entscheider. Sie erwarteten seit den Anfängen mehr politische Integration, waren an der wirtschaftlichen Integration weniger interessiert und erwarteten mehr Mitentscheidung. Darüber hinaus sollte man sich von dem Rückgang der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen seit den 1970er Jahren nicht täuschen lassen. Er wurde nicht nur seit 2004 gestoppt. Seit den 1980er Jahren wurden zudem die Bürger in der europäischen Politik immer mehr aktiv, übten über Interessengruppen, Bürgerorganisationen und auch Gewerkschaften Druck aus und nahmen über Beschwerden, Eingaben und Klagen bei den europäischen Institutionen immer häufiger Einfluss. Diese Thesen vertritt das Buch auf der Grundlage einer genauen Durchsicht bisher historisch noch kaum ausgewerteter, zahlreicher, meist digitaler Umfragen und Berichte der europäischen Institutionen, die mit Umsicht verwandt ein neues Bild eines deutlichen historischen Wandels der eigenen Vorstellungen und der Einflussnahme der Bürger auf die Politik der Europäischen Union ergeben.