Das Deutsch-französische Historikerkomitee trauert um sein Mitglied Gilbert Ziebura, das am 21. Februar 2013 im Alter von 88 Jahren verstorben ist.
Gilbert Ziebura war einer der Pioniere der deutschen Frankreichforschung. Er zählte zur Generation der politisch engagierten Historiker und Politikwissenschaftler der Nachkriegszeit, die das unselige Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit überwinden und die Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen auf eine dauerhafte Grundlage stellen wollten. Mit seinen wissenschaftlichen Werken zur „deutschen Frage in der französischen öffentlichen Meinung 1911-1914“ (1955), zu „Theorie und Praxis einer sozialistischen Politik“ bei Léon Blum (1963), zu den „deutsch-französischen Beziehungen seit 1945“ (1970; wesentlich überarbeitet und erweitert 1997) und zur „Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaftsformation“ in der Folge der Französischen Revolution von 1789 (1979) hat er analytische Grundlagen geschaffen und in bisweilen provozierender Zuspitzung zahlreiche weitere Forschungen zur französischen Gesellschaftsgeschichte wie zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen angeregt. Als akademischer Lehrer und Wissenschaftsorganisator – von 1964 bis 1974 an der Freien Universität Berlin, von 1974 bis 1978 an der neu gegründeten Universität Konstanz, von 1978 bis zu seiner Emeritierung 1989 an der Technischen Universität Braunschweig – hat er nicht nur eine große Zahl von Schülern für die Frankreichforschung gewonnen; er hat sich auch politisch für die Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen engagiert. Dafür war es ihm stets wichtig, den Dingen auf den Grund zu gehen und „hinter den Erscheinungsformen eines historischen Prozesses wenigstens einige wesentliche Bestimmungsfaktoren zu erkennen“, wie er es 1979 formulierte.
Zieburas politisches und wissenschaftliches Interesse blieb nicht auf Frankreich und die Frankreichforschung beschränkt. In den 1970er Jahren rückte die kritische Analyse des Weltmarkts in das Zentrum seiner Arbeiten, und er nahm immer wieder Anläufe zur Entwicklung eines Interpretationsrahmens, der das globale „System“ zu den jeweiligen innergesellschaftlichen Machtverhältnissen in Beziehung setzte. Diese Bemühungen ließen ihn zu einem viel beachteten Theoretiker und Wegbereiter der deutschen Politikwissenschaft werden. In seiner 2009 erschienenen Autobiographie „Kritik der Realpolitik. Genese einer linksliberalen Vision der Weltgesellschaft“ (LIT-Verlag Münster) hat er diese Suchbewegungen eindrucksvoll beschrieben. Er ist dabei gelegentlich in Sackgassen geraten, und seine oft scharfen Urteile konnten nicht jedermann überzeugen. Als intellektuelle Anregungen waren sie aber immer außerordentlich produktiv. Die Historiker der deutsch-französischen Beziehungen haben ihm viel zu verdanken.
Wilfried Loth, Präsident des DFHK
- Gilbert Ziebura in Memoriam
- Nachruf auf Professor Gilbert Ziebura