Am 22. Februar 2015 ist Lothar Hilbert verstorben, Professor im Ruhestand am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Viele kennen ihn durch seine häufige und engagierte Teilnahme an den bi-annuellen Kolloquien des Deutsch-Französischen Historikerkomitees. Er hat über mehr als 25 Jahre, praktisch seit der Gründung des Komitees, dessen Arbeit und Entwicklung konstruktiv begleitet. Das Komitee verliert mit ihm einen guten Geist, der hochkompetent und wohlwollend im Hintergrund wirkte.
Lothar Hilbert wurde am 5. Oktober 1924 in Magdeburg geboren. Über seine Herkunft, Kindheit und Jugend hat er sich wenig geäußert. Im Zweiten Weltkrieg erlitt er eine Kopfverletzung, die ihn lebenslang plagte, ohne daß er davon Aufhebens machte, die aber vielleicht sein zurückhaltendes und manchmal etwas eigenwilliges Wesen erklären kann.
Nach dem Krieg, seit 1946, erarbeitete er sich mit zwei Studiengängen eine weite und profunde Fachkompetenz: das erste Studium umfaßte die Fächer Geschichte, Geographie, Englisch und Philosophie, das Zweitstudium Jura, im besonderen Staatsrecht und Völkerrecht, und Politische Wissenschaft. Studienorte waren Heidelberg, Göttingen, Cambridge (Emmanuel College), Nancy und Paris. 1950 legte er in Göttingen in den erstgenannten Fächern das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Nach einer vorübergehenden Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent am Göttinger Historischen Seminar (bei Percy Ernst Schramm) hat er dann das Studium der zweitgenannten Fächer vornehmlich an den genannten ausländischen Universitäten vertieft. 1954 wurde er in Cambridge als Doctor of Philosophy im Fach Modern Diplomatic History promoviert (bei Herbert Butterfield). 1958 erwarb er in Nancy das Diplôme d´Etudes Supérieures Européennes und legte 1962 an der Universität Paris (damals noch gleichbedeutend mit der Sorbonne) das Examen für den Docteur en Droit ab, was ihn mit Pierre Renouvin und der französischen Schule der Geschichte der Internationalen Beziehungen zusammenführte, später auch mit Jean-Baptiste Duroselle und René Girault.
Seit 1960 war Hilbert als akademischer Lehrer tätig, 1960-1962 als Lecteur an der Ecole des Cadres des Sciences Economiques in Paris, 1961 und 1962 zugleich an der Faculté de Droit Comparé in Luxemburg, seit 1963 als Professor an der Ecole des Hautes Etudes Commerciales und gleichzeitig als Lehrbeauftragter an der Faculté de Droit an der Universität Paris. 1968 wurde Hilbert dann, nach einer Umhabilitierung auf der Grundlage seiner Veröffentlichungen und Tätigkeiten, zum Wissenschaftlichen Rat und Professor an der Universität Tübingen ernannt. Am dortigen Seminar für Zeitgeschichte, das erst Anfang der 1960er Jahre vor dem Hintergrund der problembehafteten jüngsten deutschen Vergangenheit gegründet worden war, hat er bis zu seiner Entpflichtung im Jahre 1990 Generationen von Studierenden in „Quellenkunde und Geschichte der europäischen Diplomatie und des Vertragswesens“ (seine Venia) ausgebildet und das hohe Ansehen dieses in Deutschland einzigartigen universitären Instituts mitgeprägt, zusammen mit dessen unvergessenem Gründungsdirektor Gerhard Schulz.
Das breite Hauptthema Hilberts in Forschung und Lehre war die Geschichte der Außenpolitik und der Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, in einer Zeit, als diese Thematik an deutschen Universitäten wenig präsent war. Schwerpunkte bildeten Krieg und Frieden, die Internationalen Organisationen, die deutsch-französischen Beziehungen, Militär- und Rüstungsgeschichte, vor allem auch die Europäische Integration. Er publizierte gleichermaßen in deutscher, englischer und französischer Sprache. Das Thema seiner Cambridger Dissertation von 1954 lautete: „The rôle of Military and Naval Attachés in the British and German Service, with particular reference to those in Berlin and London, and their effect on Anglo-German relations, 1871-1914“. Die Entstehung und Funktion des den diplomatischen Vertretungen im europäischen Ausland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigeordneten Militärattachés faszinierten ihn in besonderer Weise. Die Abschlußarbeit in Nancy von 1958 weitete die Thematik noch aus: „Les rapports entre les pouvoirs civil et militaire en France, en Grande-Bretagne et en Allemagne au début du 20e siècle“. In der Folgezeit griff er die genannten Themenschwerpunkte in verschiedenen kleineren Beiträgen wieder auf und erweiterte sie. Die geplante größere Studie über Rüstung und Waffenlieferungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs blieb freilich unvollendet.
Wer Hilbert kennenlernte, begegnete einem weltläufigen Herrn mit einem Hauch feiner englischer, auch konservativer, Lebensart. Perfekt Englisch und Französisch sprechend, fühlte er sich in Cambridge ebenso wie in Paris zu Hause, aber auch in Brüssel oder Luxemburg. Immer wieder überraschte er durch hochkarätige persönliche Verbindungen, die ihm im Laufe seines akademischen und beruflichen Werdegangs international zugewachsen waren. Dazu gehörte auch, daß er, offenbar als einziger westdeutscher Historiker, dem Kreis der Gründungsmitglieder der 1969 von Fernand L´Huillier (Universität Strasbourg) inspirierten „Association Internationale d´Histoire Contemporaine de l´Europe“ (AIHCE) angehörte, die nach der sowjetischen Niederschlagung des Prager Frühlings den osteuropäischen Historikern die Tür zu den westeuropäischen Kollegen offen hielt, und die bis heute besteht. 1989 wurde er als Fellow in die Royal Historical Academy in London gewählt. Währenddessen hatten es die Tübinger Studenten, aber auch mancher Fachkollege, mit einem Professor alter Schule zu tun, der, manchmal recht energisch, in Mode kommende Aufweichungen wissenschaftlicher Qualitätsstandards stets zurückwies.
Im Ruhestand blieb Hilbert dem Seminar für Zeitgeschichte eng verbunden. Mit seiner internationalen Erfahrung nahm er über viele Jahre, nach Art eines elder statesman, weiter aktiv am akademischen Leben teil, in Tübingen und darüber hinaus, mit Lehrveranstaltungen, studentischen Exkursionen, Pflege der kollegialen Community, Besuch von Kolloquien (wie denen des Komitees) und einigen Publikationen. Insgesamt eher ein Einzelkämpfer, und sich in den letzten Jahren mehr und mehr zurückziehend, verstarb er 90-jährig im Kreise seiner weiteren Familie.
Franz Knipping
Professor emeritus. Bergische Universität Wuppertal